«Kennst du den Zauber dieser offenen Zeit?»

In diesem Jahr fällt Ostern in die zweite Hälfte des Aprils, ungewöhnlich spät im Jahr also. So erfreuen uns schon in den Passionswochen Frühlingsblumen und wärmere Temperaturen und vielleicht wird auch die Karwoche mild und hell.

Diese Frühlingszeichen helfen mit, dass mich das Gedicht der Dichterin Rose Ausländer so anspricht und berührt:

«Kennst du / den Zauber / dieser offenen Zeit / wer hungert / der wird / glaub es mir / gesättigt werden»

Trotz all des Beängstigenden, das wir in diesen Tagen in der Weltpolitik beobachten, trotz all der Brutalität, von welcher uns aus aller Welt berichtet wird, trotz Krieg und Vertreibung, Hunger und Angst, trotz all des Leids überall auf der Welt, dessen auch wir in den Passionstagen gedenken, trotz all der Fragen um eine menschenwürdige Zukunft, trotz all der Zweifel einem menschenfreundlichen Gott gegenüber, kann ich den Zauber der offenen Passions- und Osterzeit nachempfinden.

Denn Passion, Leiden und Schmerzen, Angst und Not, sie haben nicht das letzte Wort, sie geben nicht den Sinnhorizont ab. Da ist etwas anderes, etwas frühlingshaft Neues, ein heller werdendes Licht, das unerwartet aufscheint, eine Begegnung, die neu möglich wird. Davon erzählt Ostern, das ist die Hoffnung über alles Schwierige und Leidvolle hinaus.

«Kennst du / den Zauber / dieser offenen Zeit / wer hungert / der wird / glaub es mir / gesättigt werden»

Wir alle hungern, wir alle sind bedürftig. Die einen nach Liebe, die andern nach Erfolg oder Anerkennung, und es gibt viel zu viele Menschen, die nach den elementaren Grundnahrungsmitteln hungern oder nach Freiheit und Menschenwürde.

Ostern heisst, daran zu glauben, darauf zu vertrauen, dass Erfüllung unserer Sehnsucht und Hoffnung möglich ist, dass unser Hunger gestillt wird. «Glaub es mir» schreibt Rose Ausländer, denn solche Hoffnung, solches Vertrauen lassen sich nicht beweisen, wohl aber glaubhaft bezeugen.

Rose Ausländer hat in ihrem persönlichen Leben immer wieder gehungert und sie durfte die Erfahrung machen, gesättigt zu werden. Ob im jüdischen Ghetto versteckt, ob im Exil in den USA, ob als Dichterin nach Anerkennung suchend oder als Frau auf Liebe hoffend, Rose Ausländer hat die Bedürftigkeit gekannt und durchlitten. Doch ihre Gedichte drücken eine beeindruckende Lebensbejahung aus und machen ihr «glaub es mir» glaubwürdig.

So glaubwürdig wie die Aussagen der Evangelisten und vieler anderer auch, die davon erzählten, dass sie von der Kraft und Begeisterung des Jesus von Nazareth ergriffen und angesteckt wurden, auch nach seinem Tod. Sie erzählten und erzählen davon, dass bis heute eine Gottnähe möglich ist, beinahe so, wie sie damals Jesus von Nazareth gelebt hat. Sie erzählten und erzählen davon, dass Hunger und Schmerz, ja sogar der Tod nicht das letzte Wort haben, sondern die Hoffnung, die Liebe, die Gemeinschaft.

«Glaub es mir» sagten auch die Evangelisten, denn die Auferstehung kann nur geglaubt, nicht bewiesen werden.

Das ist das Merkmal der «offenen Zeit»: sie kann erfahren, beschrieben aber nicht bewiesen werden. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns vom Zauber dieser Zeit berühren und verführen zu lassen, hin zur Hoffnung, zum Vertrauen, zur Freude.

So wünsche ich Ihnen und uns allen nach den ernsteren Tagen der Passionszeit und der Karwoche, dass uns der Zauber der offenen Zeit berührt, ich wünsche uns frohe Ostern.

Renate von Ballmoos, Pfarrerin Oberbalm